"Mehr Medizin ist nicht immer bessere Medizin"

Präsident der Leitungsgruppe - Milo Puhan

"Die Versorgungsforschung kann zu einer patienten-zentrierten Medizin beitragen", sagt Milo Puhan, Präsident der Leitungsgruppe des NFP 74 "Gesundheitsversorgung"

Das Schweizer Gesundheitssystem wird oft als eines der besten der Welt bezeichnet. Sind Sie auch dieser Meinung?

Milo Puhan: Das ist nicht leicht zu beurteilen. Es kommt darauf an, auf welche Art der Versorgung man fokussiert. Wir wissen, dass die Versorgung von akuten Krankheiten in der Schweiz sehr gut funktioniert. Dazu existieren mit den Spitalstatistiken gute Daten. Was ausserhalb passiert, wenn ein Patient das Spital verlässt, oder wie die Betreuung von Menschen mit chronischen Krankheiten funktioniert, das wissen wir nicht so genau.

Das heisst?

Sicher ist, dass einiges gut funktioniert und die Hausärzte eine wichtige Rolle spielen. Aber aus dem ambulanten Bereich gibt es nicht so viele Daten. Wir können also nicht so genau sagen, ob und wo es Löcher in der Versorgung gibt. Diese wollen wir mit dem NFP Gesundheitsversorgung aufspüren. Eines besteht sicher bei den Übergängen, zum Beispiel bei der Entlassung aus dem Spital in die ambulante Betreuung.

Welche Art von medizinischer Versorgung wird die Schweiz künftig brauchen?

In der Schweiz fallen rund 80 Prozent der Versorgung und damit auch der Kosten auf chronische Krankheiten, darum muss das System stärker auf sie ausgerichtet werden. Um chronisch Kranke gut zu versorgen ist es zum Beispiel wichtig, die Übergänge von der Spital- in die ambulante Pflege und zurück zu verbessern. Das NFP soll Entscheidungsgrundlagen für eine allfällige Anpassung der Versorgung liefern. Das Ziel ist, dass die Politik, die Anbieter und die Patienten ganz konkret von den Forschungsresultaten profitieren können.

Was wäre in diesem System anders?

Noch ist unser System sehr auf Ärzte zentriert, insbesondere wenn es um die Vergütung von Leistungen geht. In der Betreuung chronisch Kranker braucht es aber nicht in jedem Fall einen Arzt. Auch andere Berufsbilder werden sich verändern. Es gibt Bestrebungen, die Kompetenzen des Medizinischen Praxispersonals zu erweitern. Und Physiotherapeutinnen und -therapeuten werden vermehrt Patientinnen und Patienten anleiten, wie sie zu Hause trainieren können.

Wird das nicht heute schon praktiziert?

Es wird schon viel ausprobiert. Die Anbieter sind daran interessiert, neue Modelle zu entwickeln. Noch gibt es aber viele Innovationsbarrieren, allen voran die fehlenden Vergütungsmodelle. Wie diese gestaltet werden könnten, dazu soll das NFP Gesundheitsversorgung Antworten bringen.

Kann damit die Kostenexplosion im Gesundheitswesen gestoppt werden?

Wenn man eine Medizin betreiben könnte, die nach dem besten Wissen handelt, die innovativ ist und die Patientinnen und Patienten einbezieht, dann würde unser System kosteneffizienter. Das heisst nicht unbedingt, dass es teurer oder billiger wird, sondern dass man möglichst viel Gesundheit pro eingesetzten Franken erhält. Diese Unterscheidung zwischen der absoluten Kostenrechnung und der Kosteneffizienz ist sehr wichtig. Teuer heisst nicht unbedingt effizient, also mit einem grösseren Gesundheitsgewinn verbunden.

Sie sprechen die Überversorgung an.

Alle Behandlungen, die nicht unbedingt einen Gesundheitsgewinn bringen. Viel diskutierte Beispiele gibt es bei den Operationen. National und international diskutierte Beispiele sind Operationen bei Spinalkanalstenosen oder Herz-Katheter-Eingriffe. Das heisst nicht, dass in diesem Bereich mehr Überversorgung stattfindet. Aber man kann da die Versorgung einfacher messen als in anderen Gebieten der Medizin.

Gibt es Beispiele für Unterversorgung?

Es gibt Fälle, in denen Leistungen nicht in Anspruch genommen werden, zum Beispiel bei Impfungen. Ob dies eine Unterversorgung ist, hängt von der Perspektive ab. Man kann vielleicht auch bei chronisch Kranken teilweise von Unterversorgung sprechen, wenn zwar einzelne Therapien durchgeführt werden, diese aber nicht koordiniert sind. Es kann sein, dass darum der Gesamteffekt nicht so hoch ist, wie er bei einer guten Koordination zum Beispiel durch den Hausarzt sein könnte.

Sehen Sie einen Unterschied zwischen Stadt und Land?

Es wird interessant sein zu sehen, ob es den gibt. In der Schweiz gibt es ländliche Gebiete, wo der Zugang zur Versorgung schwieriger ist als in städtischen Gebieten. Da stellt sich aber auch die Frage, ob dies die Leute manchmal vor einer Überversorgung schützt.

Sie haben betont, dass in der Schweiz keine gute Gesundheitsdatenbasis existiert. Warum ist das so?

Daten gibt es sehr viele, aber diese sind segmentiert: Spitäler und Arztpraxen haben eigene Systeme und es gibt eine Reihe von Registern und Gesundheitsdatenbanken. Es ist ein Ziel des NFP, mögliche Verlinkungen dieser Datenquellen zu prüfen.

Der Umgang mit grossen Datenmengen ist politisch und gesellschaftlich sehr heikel, das hat auch die Debatte um die elektronischen Patientendossiers und den Persönlichkeitsschutz gezeigt. Wie gehen Sie mit der Angst um, die Daten könnten missbraucht werden?

Diese Ängste müssen wir ernst nehmen. Aber zuerst müssen wir wissen, was die Schweizer Bevölkerung überhaupt will. Momentan wissen wir das nicht so genau. Nur jene sprechen zu lassen, die das nicht wollen, reicht nicht. Es ist ein gesellschaftlicher Entscheid, welche Daten man weitergeben kann und welche nicht. In der Forschung machen wir die Erfahrung, dass wir sensitive Daten anonymisiert verwenden dürfen, wenn die Leute wissen, was damit passiert oder dass diese nicht bei einer Firma landen, die sie nicht kennen.

Wie können Sie sicherstellen, dass die Daten zum Beispiel nicht von Versicherungen dazu verwendet werden, chronisch Kranke nicht zu diskriminieren?

Das darf nicht passieren und wir müssen Wege finden, damit das nicht passiert. Interessant ist, dass die Angst vor dem Datenmissbrauch bei medizinischen Leistungsdaten viel grösser ist. Dabei geben wir mit der Kreditkarte und dem Handy enorm viele gesundheitsrelevante Daten preis und das ist völlig akzeptiert. Es stellt sich die Frage, warum das so unterschiedlich gehandhabt wird. Und man kann ein Spitalsystem nicht verbessern, wenn man ihm keine Chance gibt, aus den Daten zu lernen.

Die Versorgungsforschung existiert schon viele Jahre. Warum gewinnt sie jetzt an Popularität?

Hier gibt es mehrere Faktoren. Es ist eher neu, dass sich Forschende über die Versorgungsforschung definieren. Hinzu kommt, dass es mit der immer älter werdenden Bevölkerung mehr chronische Krankheiten gibt. Für die ist das Akutspital nicht die einzige Lösung. Und es reift die Erkenntnis, dass mehr Versorgung nicht gleich besser ist, sondern dass es wichtig ist, die Ressourcen bestmöglich einzusetzen.

Das wirft ethische Fragen auf: Wer wird behandelt, wer nicht?

Persönlich finde ich die Debatte übers Vorenthalten etwas seltsam. Dies impliziert, dass mehr Leistungen stets mit einem Gesundheitsgewinn verbunden sind. Die Definition von effizienter Behandlung ist jedoch, dass ein Patient eine wirksame Leistung besonders schätzt und von ihr profitieren kann. Umgekehrt heisst das, dass eine Leistung nicht erbracht wird, weil sie nicht geschätzt wird oder weil sie mehr schadet als nützt. Im Übrigen will die Bevölkerung wohl nicht zu viele Behandlungen, die ihnen allenfalls gar schaden. Wenn man sie nach ihren Präferenzen behandelt, sind sie zufriedener.